Friesen, der Weg der Weisheit und meine Kritik

Wie gesagt (hier) bin ich mit vielem, was Friesen in seinem Buch erläutert, einverstanden und finde seine Äusserungen als wirklich hilfreich (und lesenswert!).

Meine Kritik betrifft nur einen Punkt, wo er meines Erachtens über das Ziel hinausgeschossen hat: Logisch muss auch Friesen zugeben, dass es Fälle gibt, wo Gott ganz spezifisch und individuell führt. Es gibt dafür biblische, historische und zeitgenössische Beispiele (zum Stellenwert der biblischen Beispiele, s.u.).
Nun hat Friesen aber auf über 70 Seiten erklärt, weshalb er nicht an einen individuellen Willen Gottes glaubt und hat seine Meinung biblisch begründet. — Wie bringt er nun die beiden Fakten zusammen?
Friesen O-Ton: „…any divine guidance to an individual by means of supernatural revelation is God’s moral will for that person“ (S. 135).
Nur hat er weiter vorne gesagt, dass der moralische Wille Gottes „was revealed to apostles and prophets and can be found completetly in the Bible“ (S. 30, meine Hervorhebung). M.a.W., Friesen widerspricht sich selber.

Mein jetziger Stand der Erkenntnis (hier angeboten als Diskussionsgrundlage :-):

  • Es gibt den souveränen und den moralischen Willen Gottes, wie Friesen es erklärt
  • Anders als Friesen erläutert: Gott kann auch einen spezifischen, persönlichen Willen für einen Menschen in einer bestimmten Frage haben — aber (anders als es die von Friesen so genannte „traditionelle Sicht“ meint) dies ist eher die Ausnahme als die Regel! Im Normalfall führt Gott durch „Moral & Weisheit“ (im Friesen’schen Sinn).

Meines Erachtens ist dies ein wichtiger Punkt, über den es ratsam ist, sich grundsätzlich Klarheit zu verschaffen: erachte ich spezifische Führung (Friesen’s „Punkt“) als Regelfall oder als Ausnahme? Nur weil es biblische und biographische Beispiele gibt, kann und soll nicht geschlussfolgert werden, dass Gott immer und grundsätzlich so führt; auf jeden Fall ist die Zahl solcher Beispiele gar nicht so gross. Hier lohnt sich zu bedenken, dass es auch zahlreiche biblische Beispiele gibt, wo Entscheidungen nicht aufgrund von übernatürlichen Botschaften gefällt wurden. Man muss sich auch die Frage stellen, wie man überhaupt mit biblischen Geschichten umgehen will. Ich fürchte, dass wir zu schnell einen (realen) Einzelfall zur absoluten Norm erheben. Es wäre wohl sauberer argumentiert, wenn man einfach festhalten würde: Sowas hat es gegeben (z.B. der mazedonische Ruf, Apg. 16), und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sowas nicht wieder geben könnte.

Die eigene Biographie kann einem ein Schnippchen schlagen. C.S. Lewis hat glaub‘ irgendwo gesagt, dass Gott mit jungen Christen anders umgeht als mit reiferen. Und gerade in diesem Punkt könnte ich mir gut vorstellen, dass es eine bemerkenswerte Tendenz gibt: Dass nämlich jüngere Christen tatsächlich öfters spektakuläre, spezifische Führung erleben; nun werden diese ermutigenden Ersterfahrungen verständlicherweise zum Normalfall erhoben, während Gott den inzwischen gereifteren Christen langsam richtung „Moral & Weisheit“ lenkt. Dies scheint mir eine logische Entwicklung zu sein, denn mit zunehmender Reife versteht man Gott und seine (moralischen) Absichten immer besser und nimmt hoffentlich auch stetig an Weisheit zu.

Insofern dies alles stimmt: Was sind die Konsequenzen?

  • Der Ansatz „Moral & Weisheit“, gekoppelt mit „Freiheit & Verantwortung“ ist kein Freipass, nach eigenem Gutdünken das zu tun und zu lassen, was einem gerade in den Kram passt. Es gilt, Gottes moralischen Willen zu erforschen und zu entdecken, und dabei wird man feststellen, dass er umfassender und verbindlicher ist, als dass ein saloppes Laissez-Faire drin liegen würde.
  • Die Idee der Freiheit kann sehr entlastend wirken, nämlich dann, wenn man nach dem „Punkt“ in Gottes individuellen Willen gesucht hat, obwohl es ihn nicht gibt (das ist, wie wenn man an Weihnachten nach Ostereiern sucht…).
  • Es führt zur mehr Mündigkeit, weil man für seine Entscheidungen mehr Verantwortung übernimmt. Z.B. die Frage der Berufung: Man wird nicht mehr sagen können, dass man X oder Y nicht gewählt hat — z.B. in die Mission zu gehen… — weil man „keinen Ruf gehört“ hat.

Was noch? — Bitte im Kommentar festhalten!

10 Gedanken zu “Friesen, der Weg der Weisheit und meine Kritik

  1. Franziska 13. August 2012 / 10:14

    Ich lese gerade «Pophetischer Sozialismus» von Eduard Buess & Markus Mattmüller. Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, das Christoph Blumhardt (der Sohn des berühmten Blumhardt) vor rund 100 Jahren der Sozialdemokratischen Partei beitrat und Landtagsabgeordneter wurde. Er tat diesen erstaunlichen und für viele Glaubensgenossen unverständlichen Schritt in eine «gottlose» Partei, weil das Elend und die Rechtlosigkeit der Industriearbeiter ihn umtrieb. Auf einen «Ruf Gottes» konnte er sich nicht stützen; und doch war er sich seines Weges sicher. Also ganz auf der Linie von Friesen. Als zusätzliches Element der Führung sehe ich da noch: Was packt mich, belastet mich, treibt mich um, wofür bete ich? Was ist mein Herzensanliegen?

    • wiesmann4 14. August 2012 / 07:53

      Ja genau! Das hat in Friesenscher Terminologie alles mit „Weisheit“ zu tun und wohl auch mit Gehorsam dem moralischen Willen Gottes gegenüber: dass ich die Gaben (und Grenzen), die mir Gott gegeben hat, mit einbeziehe in meine Überlegungen.

  2. Matthias 21. August 2012 / 15:44

    Ich stimme dir bei, dass es eher die Ausnahme ist, dass Gott direkt, konkret und für uns wahrnehmbar in unsere Leben hineinspricht um auf unser persönliches Leben Einfluss zu nehmen. Im AT wie im NT stelle ich fest, dass Nachfolger Gottes vor allem nach Gottes moralischen, allgemeinen Weisungen gelebt haben (die Propheten bilden hier vielleicht eine Ausnahme). Die Geschichten der direkten Berufungen stechen zwar markant heraus, sind aber jeweils nur kurze Episoden in langen Leben. Das Leben mit der Berufung war anschliessend meist wieder im Zusammenhang des Gehorsams unter dem allgemeinen Willen Gottes.
    Ein weiterer Punkt betrifft wohl auch die Dimension der Berufung. Besondere, oder auch ungewöhnliche Aufträge erfordern wohl auch ein direkteres und deutlicheres Eingreifen Gottes.

    Ich jedenfalls warte nicht auf die Stimme Gottes etwas zu tun sondern studiere seinen Willen, versuche das zu tun was aus dieser Perspektive vernünftig erscheint. Bei schwierigen Entscheidungen bete ich auch speziell, aber eher mit dem Ergebnis, dass er mir meine Herzenshaltung aufzeigt oder er mir plötzlich Durchblick schenkt und mir die Entscheidung auf diese Art erleichtert. Manchmal stehe ich aber auch nach dem Gebet gleich schlau da wie vorher. Dann gehe ich davon aus, dass wohl beide Wege OK sind. Dabei vertraue ich aber darauf, dass mir Gott notfalls auch mal den Weg versperrt, wie bei Paulus und möchte auf keinen Fall ausschliessen, dass er mir einen direkten Auftrag erteilt (was auch schon geschehen ist, nicht akustisch wahrnehmbar aber doch so, dass ich mir ziemlich sicher war, dass es Gottes Reden war und es anschliessend auch bestätigt wurde).

    • wiesmann4 21. August 2012 / 16:34

      Ich bin froh zu hören, dass gerade auch ein Jugendpastor ähnlich denkt. In diversen Gesprächen mit diversen Leuten habe ich den Eindruck erhalten, dass jüngere Menschen vielleicht eher in der Gefahr sind, da eine falsche Erwartungshaltung zu haben, die letztlich überfordert oder lähmt oder sonst irgendwie ungesund ist. — Preach it bro!

  3. shasta-cor 15. Januar 2013 / 01:11

    durch dein Jesaja Experiment bin ich heute auf diesen etwas älteren Blogeintrag gestossen. Ich erinnere mich dadurch an ein Erlebnis, daß ich mal auf einer Jüngerschaftsschule hatte: es ging darum, daß wir um Gottes Führung beten sollten, wohin wir auf Einsatz gehen sollten. Mit Gottes Reden hatte ich damals aufgrund meiner eher nicht charismatischen Herkunft kaum Erfahrung. Ich vernahm dennoch den Eindruck, daß Gott mich auf Einsatz B haben wollte. Im Gespräch mit anderen aus dem Leitungsteam wurde mir mitgeteilt, daß sie mein Hören so bestätigten.
    Während der Auswertung der Einsatzorte kam es zu der kuriosen Situation, daß für meinen Einsatzort sich erheblich zu wenige gemeldet hatten – dieser Einsatz fiel aus. Ich musste neu um Gottes Führung beten – ich hörte aber nichts mehr. In der Folge wählte ich einen Einsatzort, wo ich einfach rein menschlich am liebsten hin wollte – ein Ort, ein Land daß fremder nicht sein könnte. Kaum einer vom Leitungsteam (überhaupt einer? ich weiß es nicht mehr) verstand meine Motivation – aber schlußendlich durfte ich dorthin. Es war eine überaus spannende Zeit, die mich mehr gelehrt hat als alles andere.
    Ich weiß nicht, ob Gott damals wirklich zu mir geredet hat oder ob es einfach nur meine „antrainierte“ Vorsicht war, die mich das erste Ziel auswählen liess – denn der zweite Ort war schon ganz zu Anfang meine erste Wahl. Aber es ging ja nicht um meinen Willen, sondern um SEINE Führung!? Eine der Dinge, die ich dadurch gelernt habe ist die Relativität des Glaubens: es gibt Dinge, die sind richtig – aber es gibt auch Ausnahmen. Sind wir bereit mit dem anderen zu glauben, ihn in SEINE eigene (!) Verantwortung hineinzuführen oder maßen wir uns an zu wissen, was Gottes Wille für den anderen ist?

    Gruß

    s-c

    • wiesmann4 15. Januar 2013 / 08:23

      „Relativität des Glaubens“ … ein spannender Gedanke, den man eigentlich erörtern müsste. Jedenfalls erzählst du eine facettenreiche Geschichte. Für mich würde ich festhalten wollen: Der gütige Gott wirkt in und trotz allen menschlichen Versuchen und Bemühungen.

      • shasta-cor 18. Januar 2013 / 22:02

        ja, da hast du recht: Gott wirkt in und trotz allem menschlichen Versuchen und Bemühen – und das Thema der Relativität des Glaubens ist ein sehr wichtiges Thema. Vielleicht nimmst du es mal irgendwo mit hinein!?

        Gruß und Segen

        s-c

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..