Warum ich trotzdem gerne in eine Gemeinde gehe

Wenn ich mit Leuten rede, die wie ich schon jahrzehntelang in christlichen Gemeinden ein- und ausgehen, dann begegne ich immer wieder einer gewissen Ernüchterung oder gar Resignation, die zu Rückzug führen. „Mein Beruf fordert von Montag bis Freitag schon mehr als genug von mir“, heisst es dann etwa, „da mag ich mich am Sonntag nicht auch noch mit einer Gruppe von Leuten auseinander setzen, die mir nicht wirklich nahe sind.“ Oder „…da habe ich keine Energie übrig, um mir Dinge anzuhören, die mit meinem Alltag nur wenig zu tun haben.“
In letzter Zeit hatte ich mehrere solche Gespräche und stellte erstaunt fest: Ich erlebe das ziemlich anders, obwohl ich unsere Gemeinde nicht als perfekt bezeichnen würde und ich als überaus heikler Kunde mit Predigten nur schwer zufrieden zu stellen bin. Trotzdem gehe ich gerne und mit grosser Überzeugung in unsere Gemeinde. Wieso eigentlich?

  • Manche Leute in unserer Gemeinde sind ziemlich anders als ich. Natürlich verbindet uns im Grunde ja enorm viel (gemeinsamer Ausrichtung auf Gott und was das mit sich bringt), aber es gibt doch auch grosse Unterschiede in Karriere, Ambitionen, Lebens- und Glaubensansichten, politischer Überzeugung usw. usf. Und ich merke: Es tut mir gut, mich mit diesen Menschen auseinander zu setzen – gerade auf dem Hintergrund dessen, was uns verbindet: Ich lasse mich herausfordern, stelle mich kritischen Fragen, versuche, meine Gedanken so in Worte zu kleiden, dass sie für andere Menschen nachvollziehbar werden, usw. Das alles ist für mich segensreich, auch wenn es sich im Moment manchmal etwas mühsam anfühlt.
  • Was mich bei unserer Gemeinde besonders dankbar stimmt: Ich habe die Möglichkeit mitzugestalten. Irgendwie hat es sich ergeben, dass sich zu verschiedenen prägenden Leuten über die Jahre hinweg eine schöne Freundschaft entwickelt hat, und so kann ich meine manchmal etwas queren Gedanken und Ideen einbringen und stosse auf offene Ohren; ich darf predigen, lehren, Anlässe anbieten. Erst gestern erzählte mir jemand, wie ein Gedanke aus einer meiner Predigten noch zwei Jahre später präsent ist… das berührt und freut mich. Ich merke: Für mich ist die Möglichkeit, mitgestalten zu können, wichtiger als die Frage, wie viel ich rausbekomme. Für meine eigenen Bedürfnisse kriege ich durch Freundschaften, internationale Kontakte, Literatur, Predigten per MP3 usw. genügend Input, wie mir scheint.

In diesem Zusammenhang frage ich m ich, inwiefern es gut und richtig ist, dass in der evangelischen Tradition die Predigt einen dermassen zentralen Stellenwert hat (und sowieso bin ich unglücklich mit der m.E. veralteten Form eines zig-minütigen frontalen Vortrags; aus der Erwachsenenbildung her würden wir wesentlich bessere Methoden kennen, wie Wissen vermittelt werden kann; aber das wäre ein anderes Thema…).

…und weshalb gehst du (nicht) in die Gemeinde?

6 Gedanken zu “Warum ich trotzdem gerne in eine Gemeinde gehe

  1. shasta-cor 11. Dezember 2012 / 12:55

    Hallo,

    ich bin angenehm erstaunt, daß du diese Rückfrage stellst – und auch zu lässt, daß man sagt ich gehe nicht in eine Gemeinde. Ich gehöre zu dieser Zielgruppe, die seit 2 Jahrzehnten es gewöhnt war, Sonntags in den GoDi zu gehen. Seit gut einem Jahr ist es (leider) nciht mehr mein Alltag. Warum? Eigentlich, weil die Punkte aus deinem 2. + 3. Punkt (nicht mehr) zu treffen: der frontale GoDi mit Predigt trifft nicht mehr meine Bedürfnisse, weil die Predigten dauerhfat auf eine komplett andere Zielgruppe ausgerichtet sind. Nach mehreren Umzügen (mit Gemeindewechseln) wurde es schwerer neue Freundschaften zu finden.

    „Für meine eigenen Bedürfnisse kriege ich durch Freundschaften, internationale Kontakte, Literatur, Predigten per MP3 usw. genügend Input, wie mir scheint.“

    Ja, und weil die anderen positiven Punkte leider ausgeblieben sind, ich leerer aus dem GoDi rausging als hinein (und mir aber beigebracht wurde als Christ geht man in den GoDi – das gehört sich so) habe ich jetzt erstmal die Reissleine gezogen. Schade aber ich sah keine andere Möglichkeit

    • wiesmann4 11. Dezember 2012 / 17:45

      Dein Kommentar bewegt mich – danke für deine Offenheit. Zwischen den Zeilen lesend dünkt es mich, dass du mit der jetzigen Situation auch nicht ganz zufrieden bist (du schreibst „leider“ und „schade“); es scheint zurzeit einfach die bessere von zwei schlechten Optionen zu sein…
      Ich wünsche dir, dass sich dir gelegentlich ein dritter Weg auftut!

      • shasta-cor 11. Dezember 2012 / 21:50

        Hallo Wiesmann4,
        es freut mich, wenn Menschen zwischen den Zeilen lesen. Ja, ich campiere gerade unter dem Ginsterbusch in der Wüste – irgendwo zwischen dem ersten und zweiten (äußerst abwechslungsreichen) Gang: frisches Brot und Wasser, vielleicht bin ich auch schon auf dem Weg in Richtung meinem Berg Horeb – who knows?

        Danke für deine guten Wünsche, die tun gut.
        s-c

  2. Stefan 11. Dezember 2012 / 14:36

    Begegnung ist etwas vom Wertvollsten für mich. Vor allem erlebe ich das in der Familie: Da kennt man sich ja sehr gut, man braucht auch keinerlei Masken. Betreffend Kirche: Ich bin Teil einer kleinen Hauskirche. Auch hier erlebe ich echte Gemeinschaft. Wahre Begegnungen finden dort statt, wo Menschen ehrlich sind, wo sie Schwächen und Grenzen benennen und aktzepieren können. Deshalb ist für mich diese kleine Zelle so wertvoll. Da kann ich nämlich auch mich selber sein, dies macht mein Gott möglich, der all meinen Mangel ausfüllt.
    Mich würd’s übrigens noch interessieren, welche Methoden sinnvoll wären um das Wort Gottes in Kirchen zu verkünden.

  3. wiesmann4 11. Dezember 2012 / 17:46

    Hoi Stefan – OK, ich werde meine Gedanken dazu einmal in einem Blogartikel zur Diskussion stellen. Stay tuned 🙂

  4. Eve 20. Januar 2014 / 14:44

    Ich find auch, der Vorteil oder das Notwendige an Gemeinde ist die Gemeinschaft. Das von einander Lernen. Inputs kriegen, auf die ich selber nie käme. Einander zurechtweisen. Einander helfen, unterstützen.
    Mir wurde das letzthin bewusst, als eine gute, nicht im christlichen Sinn gläubige Freundin von mir gefragt hat: „Du gehst oft zur Kirche, gell?“ Es war Sonntag, und ich war gerade bei ihr zu Besuch, in einer Stadt, wo ich sonst niemanden kenne. Sie sagte: „Wenn Du magst, kannst Du heute ja zur Messe gehen. Ich hab kein Problem damit. Erwarte einfach nicht, dass ich mitkomme.“ Ich sagte dann: „Ne, ist ok. Ich kenn ja hier sowieso niemanden.“ Ich dachte mir bei dieser Aussage nicht viel. Aber für sie war es total neu und interessant, dass jemand offenbar nicht, oder zumindest nicht nur, zum Gottesdienst oder zu gemeindlichen Treffen allgemein geht, um halt gegangen zu sein und das „Programm“ zu erleben, sondern eben auch um Freunde, Weggefährten – oder eben „Geschwister“ – zu treffen!

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